Der seit fünf Jahren unterbrochene Schulunterricht in der Ukraine hat verheerende Folgen für die Entwicklung und das psychische Wohlbefinden der Kinder, warnt die Nichtregierungsorganisation Plan International, während der Krieg ins vierte Jahr geht, und fordert mehr Unterstützung für die Schüler:innen, damit sie ihre Ausbildung fortsetzen können.
Seit fast fünf Jahren sind die Kinder in der Ukraine mit erheblichen Lernhindernissen konfrontiert, angefangen mit den zwei Jahren, die durch die COVID-19-Pandemie verloren gingen, und gefolgt von dem anhaltenden Konflikt. Infolgedessen entwickeln Kinder, die nicht zur Schule gehen können, häufig Sprachprobleme, die eine Unterstützung durch einen Sprachtherapeuten erfordern. Mehrere Aussagen von Lehrer:innen weisen darauf hin, dass einige Schüler:innen der Klassen 5-6 (im Alter von 10-12 Jahren) nicht in der Lage sind, richtig zu lesen oder einen Stift zu halten und zu schreiben.
Mehr als drei Millionen Kinder wurden seit der Eskalation des Krieges am 24. Februar 2022 aus ihren Häusern vertrieben, was bedeutet, dass viele von ihnen nicht zur Schule gehen können. Nach Angaben des ukrainischen Ministeriums für Bildung und Wissenschaft sind rund 4,6 Millionen Kinder in der Ukraine von Bildungshindernissen betroffen, und zwei Millionen von ihnen mussten ihre Schule schliessen.
Fast ein Drittel (mindestens 30 %) der Bildungseinrichtungen des Landes wurden beschädigt, und mehr als 365 Schulen wurden zerstört. Für Kinder, die Zugang zum Online-Unterricht haben, erschweren technische Schwierigkeiten wie Stromausfälle und begrenzter Internetzugang das Lernen zusätzlich. Infolgedessen werden die Lernlücken immer grösser, so dass viele Kinder mit akademischen Problemen zu kämpfen haben.
Seit über fünf Jahren ohne Schulbesuch
«Für ukrainische Kinder ist Bildung ein weit entfernter Traum. Der jahrelange Krieg hat zahllose Schüler:innen aus den Klassenzimmern vertrieben, sie von ihren Altersgenossen isoliert und sie der Stabilität beraubt, die eine Schulbildung bietet. In den Frontgebieten haben Kinder seit bis zu fünf Jahren keine Schule mehr besucht und sind ausschliesslich auf Online-Unterricht angewiesen - wenn sie überhaupt Zugang dazu haben», so Anastasiia Parubets, Expertin für Bildung in Notlagen bei Plan International in der Ukraine.
«Selbst dort, wo die Schulen geöffnet bleiben, muss der Unterricht wegen der ständigen Bedrohung durch Luftangriffe unterbrochen werden. Allein in Kiew mussten die Kinder seit Beginn des Krieges mehr als 1711 Stunden Alarm auslösen - das entspricht mehr als 71 Tagen. Die Folgen sind weit mehr als nur akademischer Natur; die Kinder verpassen wichtige soziale Entwicklungen und haben mit den emotionalen Folgen des Krieges zu kämpfen.»
Nachhaltige Hilfe
Eine von Plan International durchgeführte Umfrage unter 1000 15- bis 24-Jährigen in der Ukraine ergab, dass jeder Fünfte (19,8 %) infolge des Krieges ein bis zwei Jahre Schulbildung verpasst hat. «Einige Kinder in der fünften oder sechsten Klasse können nicht lesen, weil das Lernmaterial ins Internet verlagert wurde und sie nicht mit Hilfe von Lehrer:innen und Lehrbüchern Wort für Wort lesen lernen können», so Parubets weiter. Noch gravierender ist die Situation für Kinder in ländlichen Gebieten, wo sich der Rückstand erheblich vergrössert hat. Eine andere Studie ergab, dass Kinder, die in Dörfern leben, im Durchschnitt vier bis fünf Jahre hinter ihren Altersgenossen zurückliegen .
Ebenso besorgniserregend sind die tiefgreifenden Folgen dieser Bildungsunterbrechung für die psychische Gesundheit, warnt Plan International. Millionen von Kindern leiden unter einem hohen Mass an Traumata, Ängsten und Depressionen sowie unter Schwierigkeiten, sich zu konzentrieren und Gefühle zu verarbeiten. Diese psychologischen Probleme - die durch die ständige Bedrohung durch Luftangriffe, den Verlust von Familienmitgliedern und die Zerstörung von Häusern noch verschärft werden - bleiben aufgrund der begrenzten Ressourcen und Unterstützungsdienste oft unbehandelt.
«Wir dürfen die langfristigen Auswirkungen dieser Krise auf das Wohlergehen der Kinder nicht unterschätzen. Für viele ist der Krieg nicht nur eine physische, sondern auch eine psychische Bedrohung, die sich nachhaltig auf ihre emotionale und kognitive Entwicklung auswirkt», sagte Sven Coppens, Leiter der humanitären Krisenhilfe Ost- und Mitteleuropa-Ukraine von Plan International. «Durch die Unterbrechung des Unterrichts verpassen die Kinder nicht nur das Lernen, sondern auch wichtige Gelegenheiten, soziale Kontakte zu knüpfen, sich auszudrücken und das Trauma, das sie erlitten haben, zu verarbeiten. Dies ist ein Notfall für ihre psychische Gesundheit und ihre Zukunftsaussichten.»
Plan International und seine Partner haben auf die Krise reagiert, indem sie Bunker in sichere Lernräume umgewandelt haben, in denen die Kinder Zugang zu Nachhilfeunterricht, Sprachtherapeuten und Psychologen haben. «Unser Ziel ist es nicht nur, Bildung zu vermitteln, sondern auch Räume zu schaffen, in denen die Kinder einander begegnen, Vertrauen aufbauen und ein Gefühl der Normalität wiedererlangen können», betonte Parubets.
Im Jahr 2025 werden schätzungsweise 12,7 Millionen Menschen in der Ukraine humanitäre Hilfe benötigen, darunter fast zwei Millionen Kinder. Für viele ist Bildung eine Lebensader, die Stabilität, Sicherheit und Hoffnung bietet. Investitionen in Bildung, psychische Gesundheit und Kinderschutz sind für den Wiederaufbau der Ukraine von entscheidender Bedeutung, damit die Kinder die Unterstützung erhalten, die sie brauchen, um ihr Leben wieder aufzubauen und die Zukunft des Landes zu gestalten.