Emina und Riley auf Projektbesuch in Libanon
Emina (kniend, erste v.r.) und Riley (kniend, zweite v.r.) auf Projektbesuch in Libanon, Mai 2023. Foto: Plan International
26.07.2023 - von Emina Garibovic

Trotz Umstände das Beste hoffen und das Schönste erwarten

Unsere Mitarbeiterinnen Riley Healey, Programm Koordinatorin und Emina Garibovic, Verantwortliche Finanzen, besuchten im Mai das Projekt «Bildungschancen in Krisenzeiten» in Nord-Bekaa, Libanon. Hier stehen die am stärksten gefährdeten libanesischen sowie geflüchteten syrischen Kinder zwischen 6 und 17 Jahren im Fokus, die keine Schule besuchen können oder vom Schulabbruch bedroht sind. Im folgenden Text erzählt Emina aus einer sehr persönlichen Perspektive über den Projektbesuch und was er in ihr ausgelöst hat.

Stellen Sie sich vor: Es war für die Kinder in Bednayel nicht möglich, die Klassenräume ausserhalb der Camps zu erreichen. Unser lokaler Partner, The Lebanese Organization for Studies and Traning (LOST), hat schnell reagiert und die Klassenräume in die Camps gebracht. Genau hier betrachte ich die Blachen der Zeltinnenräume, es hängen Unterrichtsblätter in Arabischer Sprache, die ich nicht entziffern kann, das kleine Einmaleins, englische Wörter und farbig gestaltete Blätter zur Umweltkunde. Es ist der erste Tag unserer Projektreise und ich begleite unsere Projekt Koordinatorin Riley Healey, ohne die ich hilflos aufgeschmissen wäre. Riley ist wesentlich erfahrener, für mich ist es der erste Besuch überhaupt.


Libanon
Schulanlage in den Camps von Bednayel, Libanon. Foto: Plan International

Dieser abgegrenzte Bereich ist unter den gegebenen Umständen sehr lern-und kinderfreundlich eingerichtet. Schwer vorstellbar, wenn man es nicht mit eigenen Augen gesehen hat. Mich überkommt ein mulmiges Gefühl. Ich denke an meine Nichten, wie oft über die Schule gejammert wird und sollte nicht vergleichen, aber vergleiche trotzdem die Umstände, unter welchen diese Kinder lernen sollten. Ich versuche meine Emotionen zu unterdrücken, doch Riley hat meine wässrigen Augen schon längst bemerkt und erkundigt sich mit einem mitfühlendem «Are you okay?». Oh je, jetzt bloss nicht unprofessionell erscheinen Emina, schliesslich wartet eine ganze Delegation unseres Plan Beirut Büros und LOST-Mitarbeitern vor dem Zelteingang. Die ausserordentlich motivierte Lehrerin reisst mich aus dem traurigen Gedankenstrom, als sie ein Lied in Englischer Sprache anstimmt und ich «I make a Pizza for me and you» mitsinge, fasziniert von ihrer Unterrichtsweise und ihrer Persönlichkeit.

Das war der einzige Unterricht direkt in den Camps. Als nächstes besuchen wir eine Schule in Baalbek. Wir sprechen mit der Sozialarbeiterin über ihre Arbeit, über die mentale Gesundheit der Kinder und mit welcher Hingabe sie dafür kämpft, dass die persönlichen Erlebnisse der Kinder aufgearbeitet werden. «Ich will, dass sich die Kinder hier sicher, geliebt und willkommen fühlen. Es ist wichtig, ihr Selbstvertrauen zu stärken und Themen wie Krieg anzusprechen, ihnen beizubringen ihre Gefühle zu äussern», erzählt sie. Krieg, Flucht und Unsicherheit sollten eine unbeschwerte Kindheit nicht überschatten, in der wir uns nur auf eines konzentrieren sollten: einfach nur Kind zu sein. Kind bedeutet, lernen und wachsen, zur Schule gehen dürfen.

Erinnerungen an meinen Neuanfang

Es war Frühling 1993 als ich im Garten unserer Pfarrersfamilie in Zürich-Schwamendingen mit einem Flechtkorb im Arm auf Ostereiersuche ging. Meine Familie und ich bewohnten die Dachgeschosswohnung dieses Hauses in Waldnähe der Stadt Zürich. Die Monate zuvor waren wir zu viert vom Bosnienkrieg in die Schweiz geflüchtet. Es war das erste Mal nach dem Verlassen unserer Heimat, dass ich mich sicher und zuhause fühlte. Das Foto mit dem Flechtkorb in der Hand hängt in meiner Wohnung und erinnert mich an die glückliche Kindheit in der Schweiz. Ich kann aus meiner persönlichen Erfahrung schildern, wie schwierig sich das Aufarbeiten von Kindheitstrauma im Erwachsenenalter gestalten kann. Wir alle sind in irgendeiner Art und Weise emotional den Geschehnissen unserer frühen Lebensjahre ausgesetzt, manche mehr, andere weniger.

Meine jungen Eltern und ich waren vom Krieg traumatisiert, mein Vater hatte mit den Folgen seiner Zeit im KZ zu kämpfen. Es ist besonders schmerzlich, die Familie nicht in der Nähe zu haben, in einem fremden Land auf sich allein gestellt zu sein.

Baum der Hoffnung
Baum der Hoffnung. Foto: Plan International

Baum der Wünsche und Hoffnung

Ich betrachte den Baum der Wünsche, der schön gestaltet an der Eingangswand der Schule in Baalbek hängt. Die Kinder haben in Arabischer Schrift ihre persönlichen Wünsche geäussert, die mir netterweise gleich übersetzt werden. Die meisten möchten ihre Familie und Verwandten wiedersehen. Über den Wunsch Ich will meine Schwester sehen bin ich tief betroffen. Schwer vorstellbar, dass kleine Kinder bereits von ihren Geschwistern getrennt sein müssen. Die Sätze Ich möchte das Grab meiner Grossmutter besuchen und Ich will in meinem Land zur Schule gehen, bleiben mir ebenfalls im Gedächtnis.

Bitte denken Sie nicht, dass ich meine persönlichen Erlebnisse mit dem Schicksal der Kinder unseres Projekts gleichstellen möchte, denn kein Schicksal dieser Erde ist identisch mit einem anderen. Ich kann jedoch Parallelen ziehen und ich kann Ihnen meine Eindrücke nicht besser schildern, als mit meinen eigenen Erfahrungen, Emotionen und wenn ich mit meinem ganzen Herzen schreibe. Was ich hier im Libanon gesehen habe, hinterlässt aufgewühlte, traurige und wütende Gedanken. Es ist mir wichtig zu erwähnen, wie stolz und dankbar ich bin, dass wir von Plan International dieses Projekt umsetzen können. Doch ich frage mich immer wieder, was mit den Kindern geschehen wird, wenn dieses Projekt sein Ende findet. Deshalb ist uns die Nachhaltigkeit unserer Projekte so wichtig, sowie die auch Stärkung unserer lokalen Partner ein wichtiger Grundsatz unserer Arbeit ist.

Was werden Samir, Amina, Hussein und alle anderen Kinder tun, wenn das offizielle Schulprogramm nicht durchgeführt wird und die finanziellen Mittel nicht mehr zur Verfügung stehen? Welche Geschichten werden wir von ihnen lesen? Wird in dreissig Jahren eines dieser Kinder eine Erfolgsgeschichte schreiben und einem Schulsystem dankbar sein, so wie ich es meiner Heimat, der Schweiz, bin? Welchen Weg hätte mein Leben genommen, wenn die Weichen anders gestellt gewesen wären? Ich war bereits überfordert, als ich 1993 das erste Kindergartenjahr versäumt habe. Wie geht es Kindern, die länger aus dem Schulsystem ausgeschlossen sind? Ich kann nur das Beste hoffen und das Schönste erwarten, da wir trotz aller Umstände nicht vergessen dürfen, die Hoffnung nie zu verlieren. Für eine bessere Zukunft und das Wohl unserer Kinder. Denn unsere Zukunft sind die Kinder dieser Welt!

Für Samir, Amina, Hussein und alle, die ich in dieser eindrücklichen Woche kennenlernen durfte.

In Liebe,

Emina